Der schöne Schein von Wandel

aus "Die Welt"

Während die persönlichen Freiheiten im Mullah-Staat zunehmen, kommen die politischen Reformen nicht voran

Teheran - Die junge Frau, die ein verbotenes Kleidungsstück trägt, beschwert sich über etwas, das sie auf einem Fernsehsender gesehen hat, den zu empfangen in ihrem Land illegal ist. "Auf Euronews zeigen die doch immer das gleiche Zeug", empört sich Nesa Hamlehdar, "iranische Frauen im Tschador, Männer in Uniform, alte Autos". Sie rollt mit den Augen. "Das ist das Bild, das der Westen von uns hat."


Die Realität im Iran ähnelt eher Hamlehdar, der 22-jährigen Sprachstudentin, die auf dem Nachhauseweg von ihren Uni-Seminaren einen Zwischenstopp in einem Einkaufszentrum eingelegt hat. Sie trägt eine enge Schlaghose und darüber einen Überhang, der ganz und gar nicht wie der alles verhüllende Tschador (wörtlich übersetzt "Zelt") geschnitten ist, sondern eher an ein kleines schwarzes Cocktailkleid erinnert.


Sie hat sich einen Lidstrich gezogen und die Nägel lackiert. Ihr Kopftuch ist so weit zurückgezogen, dass es viel von ihrem Haar sehen lässt. Genau dies - unverdecktes Haar - war im Iran vor 23 Jahren verboten worden, nachdem der damalige Präsident Bani-Sadr erklärt hatte, Frauenhaare sendeten Strahlen aus, die Männer in den Wahnsinn treiben. "Die Verbote von damals gelten heute nicht mehr", sagt Hamlehdar.


Diese einfachen Veränderungen im Alltag signalisieren einen grundlegenden Wandel in der iranischen Innenpolitik.


Die Entspannungstendenzen bei der offiziellen "Kleiderordnung" der Theokratie sind das sichtbarste Zeichen einer zögerlichen, aber kontinuierlichen Ausweitung des "persönlichen Freiraums". Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Freiheit, in der Öffentlichkeit Händchen halten zu dürfen oder in den eigenen vier Wänden Satellitenfernsehen zu schauen.


Gefordert wurden derlei persönliche Freiheiten anfänglich von den Reformern im Lande, die auch politische Freiheiten einklagten. Tatsächlich gewährt werden sie nun jedoch zunehmend von den konservativen islamischen Klerikern, welche die wichtigsten Machtpositionen in der Regierung besetzen. Die Hardliner, die die strengen Regeln überhaupt erst eingeführt hatten, hoffen nun einen politischen Vorteil daraus zu ziehen, wenn sie zulassen, dass diese weithin ignoriert werden.


Zwar haben die Konservativen politische Reformen bislang verhindert und Tausende von liberalen Kandidaten vom Urnengang ausgeschlossen, dennoch sind sie in der Öffentlichkeit dank einer subtilen Strategie nicht ohne Erfolg. Sie besteht darin, den Iranern mehr von dem zu geben, was sie wollen.


"Auf der Straße haben wir hier zu Lande schon viele Freiheiten. Niemand kann das beschneiden", sagt Mohammed Javad Larijani, ein hoher Beamter in der iranischen Justiz, die von den Konservativen dominiert wird, "wir Politiker haben unsere Zukunft mit diesem Wandel verknüpft. Aber wir sind auch zuversichtlich, durch die neue Freiheit an Macht zu gewinnen."


Viele Iraner genießen den neuen Spielraum zwar, erkennen aber sehr wohl, dass er dazu dient, den Drang zu grundlegenderen politischen Freiheiten abzudämpfen. So zogen die Hardliner zwar die Sittenpolizei von der Straße ab, schlossen gleichzeitig aber mehr als 200 Zeitungen.


"Es ist ein Sicherheitsventil, das eine gesellschaftliche Explosion verhindern soll", sagt Shadi Kohandani, ein 25-jähriger BWL-Student, "die Politiker sorgen dafür, dass alle Spaß haben und nicht mehr über wichtigere Dinge nachd
enken. So bereiten sie sich auf die Wahlen vor."

von Karl Vick, www.welt.de, 24. 2. 2004