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Tango Finnale



Von den Finnen lernen, heißt mehr als lesen lernen: Eine Bildungsreise zu den nördlichsten Südländern Europas - dem einzigen Volk, das sich auch in Moll freuen kann

Wenn die Pisa-Studie uns nicht bis ins Mark getroffen hätte, dahin, wo die Schmerzrezeptoren und Eitelkeitstransmitter so sensibel reagieren, wer weiß, vielleicht hätten wir uns sogar mit den Finnen gefreut.

Dass ausgerechnet das Land, das im Kalten Krieg als Symbol für politische Duckmäuserei Eingang ins "American Heritage Dictionary of the English Language" fand - "finlandization": "Die frühere Neutralitätspolitik der nicht-kommunistischen Staaten unter dem Einfluss der Sowjetunion" - und danach den wirtschaftlichen Totalzusammenbruch durchlitt, dass Kaurismäki- Country als nass gescheitelter Klassenprimus flink wie Nurmi aufs Treppchen hüpfte, das war ein starkes Stück.

Dabei können die Finnen ja nicht nur toll lesen. Das Weltwirtschaftsforum hat Finnland zum wettbewerbstärksten Land der Welt gekürt (das Bruttoinlandsprodukt ist derzeit erbärmlich, aber in der Wirtschaft zählt das Potenzial). Das gesetzestreue Finnland, wo das Nationalepos "Kalevala" keine titanische Keilerei, sondern einen magischen Wasserkessel besingt, hat die geringste Korruption der Welt, außerdem klären finnische Kriminalisten Verbrechen besonders sorgfältig auf (Obduktionsrate: 35 Prozent; Deutschland: 5,3 Prozent). Finnland hat sich ohne Murren dem Euro angeschlossen - als einziges skandinavisches Land. Und in kaum einem Land leben so viele echte Blondinen.

Von den Finnen lernen, heißt also siegen lernen. Und deshalb pilgern deutsche Journalisten in den toten Winkel Europas wie Lahme nach Lourdes.

Der Morgen in Helsinki ist strahlend wie Erbsensuppe, und im Nebel auf der Aleksanterinkatu wimmelt es vor minderjährigen Lesewundern, beinharten Wettbewerbern und echten Blondinen, die ein leises Gefühl der Unterlegenheit wecken. Es verstärkt sich, wenn man in der lächerlich großzügig konstruierten Metro an verspiegelten Bauklotzvierteln vorbeizieht. Denn dann erreicht man Kulosaari in Ost-Helsinki.

Die Kulosaari-Schule, so versichert die Direktorin an diesem Vormittag etwa 54 mal, ist eine "völlig durchschnittliche finnische Schule". Und eben das würde einen deutschen Lehrer in Tränen ausbrechen lassen. Denn in der Kulosaari-Schule fände er: Lichte Flure. Helle Hölzer. Gläserne Wände. Bis auf gedämpftes Murmeln aus offenen Türen - Ruhe. Am liebsten würde man gleich einziehen. Er fände Kollegen, die ohne Schweißausbruch Sätze über die Lippen bringen wie "Ich liebe meinen Beruf. Die Arbeit mit jungen Menschen ist wundervoll." Und Schüler, die sagen: "Die Deutschen müssen einfach härter arbeiten."

Er würde erfahren, dass Finnen erst mit sieben eingeschult werden und dass es bis zur neunten Klasse nur Gesamtschulen gibt; dass die Gesamtschüler alles, vom Bleistift bis zur Busfahrkarte, bezahlt kriegen; dass Lehrer zwar geduzt werden, aber ein beängstigend hohes Ansehen genießen, weshalb man sie auf dem Land "kansankynttillä" nannte: "Kerzen des Volkes". Und damit die Volkskerzen nicht an beiden Enden brennen, verarztet ein medizinisch-sozialer Komplex aus Krankenschwester, Psychologe, Zahnarzt und Unterrichtsberater alle curriculumfernen Krämpfe.

Man würde ihn auf die finnische Sprache hinweisen, die man schreibt, wie man sie spricht, was das Lernen erleichtert, und bestimmt würde man ihn vor den Fernseher setzen: Ausländische Sendungen werden nicht synchronisiert. So lernen die Kleinen, finnische Untertitel zu lesen und gewöhnen sich an Fremdsprachen. Das alles würde ein deutscher Lehrer sehen. Und nichts begreifen.

Denn mit Gesamtschulen haben wir ja auch experimentiert; dass unsere Schüler beim nächsten Pisa-Test tatsächlich besser abschneiden, wenn "Tex Avery" mit Untertiteln liefe, darf man bezweifeln; und die Briten stehen ja auch prima da, obwohl sie früher eingeschult werden und Englisch nun wirklich keine onomatopoetische Sprache ist. Hat, horribile dictu, vielleicht der dreizehnjährige Maarti recht, der mit seinem besten Buster Keaton-Gesicht sagt "Wir sind einfach intelligenter"?

Es ist noch gar nicht lange her, dass auch manche Finnen auf das zerrüttete Sprachniveau und das unmoderne Gesamtschulprinzip schimpften: nur ungefähr vier Wochen. Dann kam Pisa und lauter fremde Journalisten, die gelb vor Neid waren. Das Geheimnis des finnischen Bildungswunders, man muss es sagen, scheint nicht exportierbar. Zumindest nicht zu uns.

Denn so gern wir uns zu den Finnen aufs Treppchen quetschen wollen - würden wir wirklich unseren Bildungsetat um drei Prozent erhöhen, um einen Gemeinschaftsgeist zu pflegen, der uns so fremd ist wie Forelle zum Frühstück? Für ein Fünf-Millionen-Volk, das sich eine eigene Sprache leistet, ist Zersplitterung der Tod. Und mag ein Sozialpsychologe wie Klaus Helkama das erstaunlich stabile finnische Wertesystem - "Konformismus, Selbstdisziplin und Kompromiss" - als Relikt "osteuropäischen Kollektivismus'" beschreiben, so hat es doch langfristig den Finnen das Überleben und kurzfristig wohl auch den Erfolg beschert. Außer ein paar Rudolf-Steiner-Schulen und dem Internat für junge Mathe-Genies, das Nokia sponsort, sind alle Gesamtschulen gleich ausgestattet. Arm und Reich, Land und Stadt, Klug und Dumm - neun Schuljahre lang soll die Kette so stark sein wie ihr schwächstes Glied. Von den Finnen lernen, heißt teilen lernen. Aber wollen wir das?

Sie sind selbstbewusster geworden, die verhuschten "finnlandisierten" Finnen, proportional zur Bildung, wobei Globalisierung, Europäisierung, Patriotismus und was sonst noch gut fürs Ego ist, in Finnland fünf Buchstaben hat und anderswo oft für eine japanische Kleinstadt gehalten wird: Nokia. An diesem Tag melden die etwa 250 (!) Zeitungen, dass der Nokia-Manager Anssi Vanjoki den teuersten Strafzettel aller Zeiten bekommen hat. 16 000 Euro soll er bezahlen, weil er auf seinem Motorrad mit 75 Sachen durch Helsiniki gerast ist: Die Höhe der Strafe hängt vom Einkommen ab. Natürlich ist das Pech für Anssi Vanjoki, aber ein Glück für Finnland, denn solche Kleinigkeiten retten die Illusion von Gerechtigkeit über die neunte Klasse hinaus.

Dass der Reichtum noch schlimmere Risiken hat und es vielleicht nicht gut ist, wenn der Hex, der finnische Dax, seine (inzwischen etwas flachere) Börsenkurve synchron zum Nokia-Wert zieht, als wäre es ein und dasselbe, das dämmert den Finnen erst allmählich. Andererseits kann man es natürlich auch so sehen wie Osmo Kammonen, Manager des Nokia-Zulieferers "Elcoteq": "Wenn wir schon abhängig sind, dann am liebsten von der Weltspitze."

Worin sieht er das finnische Geheimnis? Jedenfalls nicht in japanischem Arbeitseifer. Wenn Kammonen eine ausländische Delegation mit der Eröffnung überrascht, nach dem Lunch müsse er die Runde leider verlassen, weil seine Tochter warte, und in der Nokia-Zentrale am Sonntagabend nicht ein einziges Licht brennt, dann verrät das ein erschütterndes Selbstvertrauen. Und sonst? "Unsere Infrastruktur ist hervorragend", sagt Kammonen, "wir haben Flughäfen...". Ja? "Wenn wir arbeiten, sieht es nicht nur so aus, sondern wir arbeiten wirklich." - Und? - "Wir gelten als ehrliche Partner. Alle machen gern Geschäfte mit uns." - "?" - "Obwohl wir keinen Smalltalk können." Von den Finnen lernen, heißt schweigen lernen.

In Helsinki ist die Nacht angebrochen, und für die Besucher der Karaoke-Bar "Wanha" endet sie in schätzungsweise sechs Monaten in einer kleinen Stadt namens Seinäjoki. "Seinäjoki", das ist für finnische Ohren ein Versprechen wie "Nashville". Seinäjoki ist der Schauplatz des "Tangomarkinnat", des Gipfeltreffens der finnischen Tango-Künstler. Anfang Juli fallen sie zu Hundertausenden in Seinäjoki ein, tanzen, singen, grillen und trinken fünf Tage und fünf Nächte lang und küren am Ende zwei stark geschminkte Überlebende, die einen Plattenvertrag bekommen und für die nächsten Jahre ausgesorgt haben. Und am Beginn des Weges nach Seinäjoki stehen Vorausscheidungen wie die im "Wanha".

Teenies zahlen Trainern Tausende von Dollar, ohne den Hauch einer Chance. Maarit Aro ist fast vierzig, aber wenn sie sagt: "Ich fahre nach Seinäjoki. Ich hab' es meinen Kindern versprochen", klingt das so fest wie die Felswände im "Wanha". Maarit Aro wird von den "Suudelmia ja samppanjaa" singen, von den "Champagner-Küssen", keine wüsten Liebkosungen voll rasender Leidenschaft, eher ein sehnsüchtiger Hauch, weh und fast ein bisschen wiegend. Man träumt sich nicht an den Rio Grande, sondern an den Don. Finnen, so hat es ein Star der Sechziger mal ausgedrückt, sind als einziges Volk der Welt in der Lage, "sich in Moll zu freuen". Maarit fährt nach Seinäjoki. Für ihre Kinder. Für diese Traurigkeit.

Und die Erotik? Auf der Tanzfläche bewegen sich in wechselnden Forma tionen: Ein Paar in Gold mit Storchenbeinen, ein Buckliger mit einem Kinn wie die Dalton-Brüder, ein Rasputinhemd, eine drahtige, schwarz gekleidete Blonde und dazwischen - mit einer Luftverdrängung wie der Silja-Kahn im Südhafen - ein spitzbärtiger Onassis-Typ, der keine Frau auslässt. Irgendwann vergisst man, dass sich da ganz normale Finnen mit normalen Finnenfiguren in den Armen liegen, dass für die Frauen, die sich hier willig biegen lassen, im Bus kein Mann aufsteht, weil sie so selbstbewusst sind."Wenn der Mond eine Frau ist / fass ihn an den Brüsten / wenn er ein Mann ist / biete ihm eine Zigarette an", lautet ein Gedicht von Juhani Pelto. Sollte man von den Finnen vielleicht etwas ganz anderes lernen?

Das "Wanha" kocht. Der Onassis-Typ schwärmt aus zu einem neuen Beute zug, die Goldfasane schlingen sich ineinander. Dann fängt Maarit an zu singen. Das blaue Kleid lässt ihre Augen glitzern wie Discokugeln. "Suudelmia ja samppanjaa". Es klingt fast italienisch.

SONJA ZEKRI
aus: Südeutsche Zeitung, 26. Januar 2002