aus: DIE ZEIT

 

Wenn die Recken ihre Socken selber stricken

Die altfinnische »Kalewala«, ein Wunderhorn des Nordens, endlich in neuer Übersetzung

Von Thomas Kling

Oh, diese Finnen! Im Jahre des Herrn 1662 hatte die der schwedischen Herrschaftsschicht entstammende lutherische Pastorenschaft allen Grund, indigniert zu sein über ihre tölpelhaft-schriftlosen Schäfchen. Hatte es doch, irgendwo in den Weiten dieses Urwald- und Seenlandes in the middle of nowhere, eine Beerdigung gegeben, die so weit ganz ordnungsgemäß mit Kirchengesang und unter Glockengeläut abgelaufen war, wenn sie da nicht, tcha – einen Bärenschädel zu Grabe getragen hätten! Und es sollten noch einmal beinahe 200 Jahre vergehen, bis nachzulesen stand, wie sich der einst in ganz Eurasien und Nordamerika verbreitete Bärenkult an der Peripherie der Peripherie Europas in alten bis archaischen Liedern, Sprüchen und Gesängen lebendig erhalten hatte.

1849 legte der aus kleinen Verhältnissen stammende Arzt Elias Lönnrot seine über lange Jahre zusammengetragene Sammlung der Kalewala in der Endfassung vor. Immer wieder hatte der Amateurphilologe Reisen an die äußersten Ränder Finnlands unternommen, wo er die Gelegenheit wahrnehmen konnte, den Liederreichtum der finnischen Volkssänger aufzuzeichnen. Schon vorher war Jacob Grimm dieser Sammler mit seinen Folklore-Bruchstücken aus dem hohen Norden aufgefallen – so werden in der Deutschen Mythologie die so vitalen wie zauberkundigen Sänger-Helden der Kalewala (ein mythischer Name Finnlands) gleich mehrfach als Exempel herangezogen.

50 prallvolle Gesänge, unterschiedlichen Sängern aus diversen Gegenden abgehört, sind es, die der finnische Homer-Verehrer – und hierin ist er ganz der späte Romantiker als Volksgut-Monteur – aus einem Reservoir von Zehntausenden Versen zu einem Epos zusammengestellt hat. Man soll sich die Kalewala jedoch nicht kälteschockend-unverbrüchlich wie das Nibelungenlied vorstellen und auch nicht wie die griechischen Epen, die sich über Genealogien und endlos Blutzoll fordernde Kriegsführung definieren – zwei überdies äußerst humorlose Beispiele, wie man zugeben wird. Bei der letztlich erstaunlich grausamkeitsfreien Kalewala – besonders in der vorliegenden Neuübersetzung Gisbert Jänickes, die ganz fantastisch ist und der wegen ihrer wunderbaren Leichtlesbarkeit bei nie zur Disposition gestelltem Sprachreichtum nicht genug des Lobes gesungen werden kann – handelt es sich um wirklich ausgeflipptes, mit wunderlich-unterhaltsamen Ideen nie geizendes arktisches Mythenmaterial. Und, bitte, wo hat man das? Dass die subpolaren Helden in Bootsbau, Schlitten- und Skiherstellung bewandert sind – geschenkt, das kann man erwarten. Dass aber die schamanistischen Recken, schmelzkundigen Schmiede und sangeskundigen Merlins sich selbst die Fäustlinge machen und Socken stricken – das hinwiederum ließe uns bei Siegfried und Hagen doch eher peinlich berührt die Fingernägel fixieren.

Eher ist es so, dass man bei Finnlands Helden zugewuchert-schweigsame Trapperfiguren vor Augen hat. Schweigsam – bis sie ihren Gesang beginnen! Der Große Schamane und zauberkundigste Sänger, der mit dem umfangreichen Repertoire an funktionablen Heiler- wie Verwünschungssprüchen (und stets darauf bedacht, es zu erweitern), ist Wäinnämöinen, der seit Anbeginn der altfinnischen Welt an ihrem Schicksal Anteil hat. Er ist es auch, der das traditionelle Saiteninstrument, die »hechtknochige«, rosshaarbespannte Kantele erfindet, zu der er seine Mensch wie Tier, Pflanze und Gestirn anrührenden Liedvorträge anstimmt. Der alte Wäinnämöinen weiß genau, worauf es beim dichterischen Vortrag ankommt – Ton- und Lichtregie hat er im Griff:

Leuchter, halt den Kienspan fest,dass ich beim Singen seh!Die Reihe ist ans Singen gekommen,mein Mund will raunen.

Und dann geht’s los, aber wie. Von Raunen, von in die frosterstarrt-hohle Hand Gewispertem kann die Rede nicht sein. Es sind grandiose Naturbeschreibungen, die die Kalewala zu liefern imstande ist – und die Gisbert Jänicke imstande ist herüberzubringen. Sein Deutsch ist hochsensibel-biegsam und erinnert in seinen besten, und das heißt in zahllosen, Passagen an die findungsreich-kraftvolle Sprache des legendären Mythen- und Zungen-Anverwandlers H. C. Artmann.

Das trällert dann los, jauchzt, brummt mit Macht und keucht und jippert. Wir versuchen uns lesend, und Gesänge vorlesend, vorzustellen, wie die finnischen Sänger es mit ihrem Vortrag gehalten haben mögen (man kann unschwer hier und dort einsteigen; und wieder aussteigen; um sich anderenorts neuerdings einzuklinken). Wir denken an Rasmussens Beschreibungen von Inuit-Festen aus dem 19.Jahrhundert, bei denen die grönländischen Histrionen zur Gaudi des Publikums Jagdtiere jeweils in Ton und Bewegung vorzustellen pflegten. So sind die Tier-Sound-Vergleiche gesetzt, wie in folgendem Beispiel, wo es um die Beschreibung der Funktionstüchtigkeit eines nagelneuen Bootes geht (bei den größeren Schiffstypen, so genannten Hundertplankigen, dürfen wir uns stolze Wikingerschiffe vorstellen – die Planken allerdings bunt gestrichen und mit farbigem Segelwerk):

Er ruderte mit Kraft – Bänke ruckten,

Bordwände bogen sich.

Die Ruder klatschten, wie

Birkhühner quiekten die Rudergriffe,

wie Rebhühner gurrten ihre Blätter,

der Bug sang wie ein Schwan,

wie der Rabe ächzte das Steuer,

wie Gänse schnarrten die Dollen.

Von ferne erinnert das an die ebenfalls weit über tausend Jahre alten angelsächsischen Gesänge, an den Seafarer (den Pound, nicht fehlerfrei, ins Neuenglische gebracht hat), den wettergegerbten Fahrensmann, der die Seevögel in allen Tonlagen eisigster Windstärken auszumachen vermochte. Was das Epos gewissermaßen im Gefrierschnitt allein an Schamanismus und archaischer Ekstasetechnik hat festhalten können, ist ganz erstaunlich in seiner Vielfalt. All dies war in den Gesängen aufgesogen, vermutlich ohne das Zutun seines Redakteurs, dem an einem ethnologischen Blick nicht gelegen sein konnte, der vielmehr am literarischen Steigbügelhalten bei der Identitätsfindung der Finnen interessiert war (die zur Zeit der Liederniederschrift dem Zarenreich untertan waren). Bedenkt man die zahlenmäßige Spärlichkeit der althochdeutschen Zauberverse, Stichwort Merseburger Zaubersprüche, von denen es genau zwei gibt, die auf uns gekommen sind (und die, eher Lego-Figuren vom Maß her, ebenso ernst wie vollmundig von den Altgermanisten als Sprachdenkmäler bezeichnet werden), und schaut sich den eisig-erfrischenden Gießbach, diesen nicht abreißenden Schwall an ellenlangen Heilersprüchen, an Blut- und Tiersegen an, wie die Kalewala sie auf ihre Leserschaft herunterrauschen lässt, so hat man eine Relation. Und einen quicklebendigen Einblick in diese Sprach- und Ethno-Schatztruhe, voll gefüllt mit märchenhaften Polar-Aventiuren seit der schamanistischen Liedepik – noch aus der Vorwikingerzeit stammend! –, wie sie vor 150 Jahren geöffnet worden ist und wie sie uns jetzt wieder durch die Neuübersetzung aufgeklappt wurde.

PS: Wer sich einen Überblick in die Lyrik Finnlands seit 1800 verschaffen möchte und sich nicht davon abhalten lässt, dass der jüngste aufgenommene Dichter auch schon bald 50 wird, ist mit M. P. Heins Auswahl und seinen stets verlässlichen Übersetzungen gut bedient.

KalewalaLyrikBelletristik Das finnische Epos von Elias Lönnrot; aus dem Finnischen von Gisbert JänickeElias LönnrotBuchJung und Jung2004Salzburg 200438500 Weithin wie das Wolkenufer/ Kuin on pitkät pilven rannatLyrikBelletristik Finnische Gedichte aus zwei Jahrhunderten; ausgewählt und übersetzt von Manfred Peter HeinManfred Peter Hein (Hrsg. und Übersetzer)BuchWallstein Verlag2004Göttingen 200430312

(c) DIE ZEIT 09.12.2004 Nr.51