aus: "DIE ZEIT" 12/2003

 

I loof dies fins!

Lappen reden nicht viel. Sie nehmen Wörter behutsam in den Mund, um ihnen nicht wehzutun. Erst recht im Norden, wo überall Bäume wachsen und die Parkplätze riesig sind

Von Björn-Erik Sass

In Finnland wachsen keine Melonen. Aber auch Finnen haben manchmal Hunger, und deshalb bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als Fisch zu essen. Leider frieren in Finnland im Winter alle Bäche und Flüsse und selbst die großen Seen zu. Irgendwann standen die Finnen also an ihren vereisten Ufern, kratzten sich ratlos die Hinterköpfe und überlegten, wie sie denn nun an die Fische herankommen sollten.

Und aus dieser Laune heraus wurde das Eisfischen erfunden. Das geht so: Sie fahren mit dem Schneemobil raus auf einen See, und wenn sie eine gute Stelle gefunden haben, trinken sie Wodka aus der Flasche, bohren oder sägen ein Loch ins Eis, und weil das sehr anstrengend ist, trinken sie wieder Wodka aus der Flasche, hängen eine Angel ins Wasser und warten und trinken und warten und trinken. Irgendwann fahren sie nach Hause, weil der Wodka alle ist. Und dann kommt so ein Tourist wie ich.

Ich fuhr mit dem Bus durch das Land und verstand das alles überhaupt nicht.

Überall wachsen Bäume, ganz Nordlappland ist voll damit, und dann gibt es mittendrin diese großen Lichtungen. Unglaublich groß, brettflach und kein einziger Baum drauf. Ich habe lange überlegt, was das soll. Komisch, dachte ich tatsächlich, die haben hier aber verdammt viele Parkplätze. Das habe ich nicht begriffen, warum die so viel Land gerodet und planiert haben, nur um Parkplätze zu bauen. Nordlappland ist ja riesig, größer als Schleswig-Holstein, und es wohnen dort weniger Menschen als in Eckernförde.

Wozu zum Teufel brauchen die mitten in der Walachei so viele Parkplätze?, fragte ich mich. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten, in Inari bin ich aus dem Bus gestiegen. Inari ist ein kleines Dorf am Inari-See, und es hat eine Hauptrolle gespielt in dem Spielfilm Zugvögel mit Joachim Król.

Dieser Film ist einer von zehn Gründen, warum ich mitten im Winter Urlaub in Finnland mache. Ich steige also aus dem Bus, und Inari sieht wirklich aus wie im Film.

Ein kleines Hotel, das auch Restaurant und Souvenirladen ist, auf der anderen Straßenseite ein Supermarkt mit Tankstelle, weiter hoch noch zwei Souvenirgeschäfte und am nördlichen Ortsausgang das touristische Highlight von Inari, das Samen-Museum. Da bin ich ein paar Tage später auch mal reingegangen

ich finde, man kann nicht gut nach Lappland fahren und so gar kein Interesse für die Kultur der Samen zeigen. Noch mehr interessierten mich aber der heiße Kaffee und das warme Klo, denn nach ein paar Tagen war klar: Es ist rattenkalt in Finnland. Da muss jede Gelegenheit zum Aufwärmen genutzt werden. Nun bin ich ja aber gerade erst angekommen im Norden: über Stockholm, mit der Fähre nach Turku, von da mit dem Zug bis zur Endstation nach Rovaniemi und dann noch einmal einen halben Tag mit dem Bus nach Inari.

Den ganzen Vormittag habe ich mich über diese Parkplätze geärgert, die die Finnen in ihre Wälder geklotzt haben. Jetzt will ich mal einen aus der Nähe angucken. Gleich neben dem Inari-Hotel ist so einer, unvorstellbar groß, er reicht in alle Himmelsrichtungen bis zum Horizont. Das liegt natürlich auch daran, dass der Horizont in Finnland im Winter fast nie sehr weit weg ist, weil es nicht sehr hell ist, dafür oft ziemlich diesig. Kann schon mal sein, dass es nur etwa tausend Meter bis zum Horizont sind. Ich betrete also diesen Parkplatz neben dem Inari-Hotel, und plötzlich fällt mir ein, dass im Film direkt neben dem Hotel der Inari-See anfing. Wo ist der jetzt? Die können doch nicht tatsächlich den See zugeschüttet haben, nur damit im Sommer die Nordkap-Touristen auf der Durchreise bequem anhalten und im Inari-Hotel fettige Bratkartoffeln mit Hackfleischklößen und weißer Soße essen können.

Ich stapfe weiter und weiter, bis ich auf einmal bis zum rechten Knie im Wasser stehe. Und jetzt kapiere ich endlich: Worauf ich hier stehe, das ist der Inari-See, das ist gar kein Parkplatz, das waren alles keine Parkplätze.

Wäre ja auch bekloppt von den Finnen. Und die Melonen fallen mir in diesem Moment auch wieder ein: Ich bin in ein altes Loch zum Eisfischen eingebrochen. Vor ein paar Stunden erst verlassen, ein kleines bisschen zugefroren, etwas Schnee drübergeweht, eine prima Touristenfalle.

Kurz vorm Hotel klettere ich die Böschung rauf, meine Hose und die Socke sind schon gefroren, da fliegt einen halben Meter neben mir ein Drache durch die Luft. Ich werfe mich zu Boden. Das Ding hat mich nicht gesehen. War auch gar kein Drache, bloß ein alter Mann auf seinem röhrenden Schneemobil. Der war in der Kneipe, hatte ein paar Lapin-Kulta-Bier und muss jetzt nach Hause, weil die finnischen Frauen selten schimpfen, aber unglaublich streng gucken können. Der alte Mann hat Gicht, er kann nicht mehr gerade gehen, aber auf seinem Schneemobil merkt er davon nichts. Erst hat er eine Runde um das Hotel gedreht. Dann mit Höchstgeschwindigkeit auf die Böschung zu, leicht aufstehen, springen und springen und schließlich satt landen, sauber aus den Knien abgefedert. Also doch kein Drache. Der alte Mann fährt weg, die Ohrenklappen seiner Chapka flattern im Wind, und in seinem Mundwinkel steckt eine Zigarette, die bei Finnen trotz Fahrtwind niemals ausgeht.

In der Kneipe sitzen nur ein paar Männer aus dem Dorf, Touristen sind im Winter selten so weit im Norden. Die Männer lachen sich tot über meinen nassen Fuß. Einer steht auf, er trägt zwei Messer an seinem Gürtel, kommt an meinen Tisch und sagt etwas zu mir. Ich verstehe kein Finnisch. Er redet, ich lächle und mache auch blabla, do what the locals do, heißt es ja immer, er geht zurück an seinen Stammtisch, erzählt sein Abenteuer, und die ganze Runde lacht sich kringelig. Obwohl es wahrscheinlich kein Volk auf der Welt gibt, das so leise laut lachen kann wie die Finnen. Wie es auch kein anderes Volk gibt, das so leise leise sein kann und so leidenschaftlich leise und so alles leise.

Das merke ich ein paar Tage später im Kaavasen Kievari in Kaamanen. Das Kievari ist Kneipe, Restaurant, Tankstelle, Laden, und im Sommer werden Hütten vermietet. Jetzt ist Winter, und nur Rentier-Männer kommen hierher.

Ich wohne ein paar Kilometer die Straße runter in der Jugendherberge. Im ganzen Ort Kaamanen wohnt kein Dutzend Menschen, und die Kneipe ist die einzige im Umkreis von zwanzig Kilometern, nach Westen ist sie sogar die einzige bis nach Norwegen, und wenn ich einen der Rentier-Männer frage, wie weit es genau sei bis zur Grenze, schüttelt er bloß den Kopf.

Saturday night, und ich denke, Finnland ist klasse, der viele Schnee und die Kälte und das Nordlicht und das alles - heute wird einer druffgemacht. Es ist der vierte Abend hintereinander, an dem ich die halbe Stunde von der Jugendherberge rübergehe ins Kievari. Was soll ich auch anderes machen? Im Fernseher laufen nur finnische Comedy-Sendungen, und wer einmal Finnen live gesehen hat, kann sich vielleicht den Unterhaltungswert einer finnischen Witzsendung vorstellen, wenn man gerade genug Finnisch versteht, um Hallo zu sagen: Hej. Finnischer Humor ist offensichtlich ganz was Eigenes. Lesen kommt auch nicht infrage, ich habe nur ein Buch mitgenommen, und Philip Roth ist so langweilig, dass ich von seinen 400 Seiten nur 80 geschafft habe. Das Buch müsste immer noch im rechten Herrenklo der Bushaltestelle in Ivalo liegen. Bleibt im Entertainment-Bereich nur noch das Kievari. Eine gute Entscheidung.

Es scheint eine Regel zu geben, dass die mit einem reden dürfen, wenn man vier Tage hintereinander einer von sechs Gästen im selben Lokal ist. Ich sitze gerade mal zwei Stunden, da setzt sich einer an meinen Tisch. So läuft das da: Er steht auf und setzt sich ohne ein Wort mir gegenüber. Starrt mich an. Trinkt sein Bier. Starrt. Trinkt. Dann streckt er seine Hand aus und sagt: Joki! Wir schütteln uns die Hand, ich sage: Bjórn! Er starrt wieder. Trinkt. Und fängt endlich an zu reden: I think, we need another beer, Bjórn. Wenn Finnen englisch sprechen - und hier oben sind das nicht viele -, dann sind sie ganz vorsichtig. Finnen reden ja überhaupt nicht viel, Schweigen ist ihnen eine Tugend, die können stundenlang nichts sagen. Die Wörter sind ihnen viel wert. Sie nehmen sie behutsam in den Mund. Um ihnen nicht wehzutun, benutzen sie nur die Zungenspitze und bewegen den Mund so wenig wie möglich. Sie zerkauen die Wörter nicht und rotzen sie dann aus - sie schieben sie langsam nach vorn, überlegen bei jeder einzelnen Silbe, ob so viel Gequatsche wirklich sein muss, und lassen sie dann fliegen. Wenn die Finnen sprechen, dann singen sie, dann ist das ein bisschen wie leiser Wind, der durch Birkenblätter streift, auch wenn das jetzt übertrieben klingt.

Joki trinkt Bier mit mir. Joki ist also mein Freund. Wir bestellen Bier bei Maria. Wahrscheinlich sind die Finnen die Einzigen, die diesen Namen auf der ersten Silbe betonen. Jokis Frau kommt zu uns. Sie starrt mich an. Und trinkt. Dann zeigt sie auf Joki, sagt: I loof dies mann!, und verschwindet aufs Klo. Joki starrt in sein Bier. Trinkt. Starrt in sein Bier. Dann starrt er mich an. Ohne Liebe, Bjórn, ist die Welt traurig. Er trinkt. Starrt wieder in sein Bier. Seine Frau kommt zurück. Aber mit Liebe, Bjórn, ist die Welt auch traurig, murmelt Joki. Seine Frau wirft ein Geldstück in die Jukebox. Akkordeon, Tuba, Hammondorgel und andere Folklore-Instrumente schrammeln durch den getäfelten Raum. Dazu jault ein finnischer Popstar eine humppa-Version von Bruce Springsteens Sad Eyes.

Humppa ist eine Mischung aus Tango, Polka und weiß der Teufel was. Mir tut es in den Ohren weh. Joki seufzt und wiegt seinen Kopf mit geschlossenen Augen zu der weinerlichen Melodie. Dann starrt er mich an. Finnen liebten Tango, sagt er. Dass sie sich dazu anders bewegen als Argentinier, muss er mir eigentlich nicht mehr erklären. In Argentinien zeigten sie ihre Gefühle, sagt Joki, da ließen sie alles raus. Fienniesh tango ies verie dangierous, flüstert er mit diesem finnischen Lispel-S, das genauso klingt wie das Lispel-G und das Lispel-Sch. Finnischer Tango ist ganz in dir. Man weiß nie, was passiert.

Am nächsten Tag habe ich einen dicken Kopf vom Bier und vom Wodka, die ich mit dem Herbergsvater und seinem Onkel in der Sauna getrunken habe. Ich beschließe, auch mal etwas Gutes für meine Gesundheit zu tun und wandern zu gehen. Am Abend gehe ich mit Toshiro los. Toshiro ist der einzige andere Gast in der Jugendherberge, und er kommt aus Japan. Japaner scheinen die größte Touristengruppe in Finnland zu stellen, jedenfalls habe ich in drei Wochen bestimmt zehn Japaner gesehen. Toshiro sagt, das komme, weil Finnland von Japan aus das nächstgelegene europäische Land sei, und ich weiß immer noch nicht, ob mir das als Motivation reichen würde.

Abends, wenn ich Spaghetti mit Tomatensauce und Dosentunfisch esse, kocht Toshiro Reis, zerschnippelt frischen Fisch und bastelt daraus Sushi, als hätte er überhaupt keine Angst vor Klischees. Die Essstäbchen hat er von seinem Großvater geerbt, sie sind aus Elfenbein, stecken in einem Edelholzetui, und wenn Toshiro Reis und einen Schluck Sake in seine kleinen Reise-Opferschalen gibt, bevor er mit gekreuzten Beinen und durchgestrecktem Rücken mit dem Essen anfängt, komme ich mir, in meiner fleckigen langen Unterhose, mit dem Topf auf dem Bauch auf dem Sofa liegend, richtiggehend armselig vor.

Abends ziehen wir alles an, was man anziehen kann, stopfen Zeitungen in die Hosen und auf die Brust, nehmen unsere Rucksäcke und stolpern los. Niemand wird sagen, dass die Sonne im Winter nachts besonders oft zu sehen ist in Finnland. Aber der Wind bläst die Wolken weg, und dann gibt es da mehr Sterne als irgendwo sonst, und wenn auch noch der Mond scheint, reflektiert in all dem Schnee genug Licht, dass man auch nachts wandern kann. Leider sind wir schon ein paar Stunden unterwegs, als wir merken, man muss gar nicht alles machen, was man machen kann. Es sind 40 Grad minus und acht Windstärken, die Kälte geht durch die Zeitungen und Faserpelze und Daunenjacken wie nix, und im Bett wäre es jetzt sehr warm. Ich habe zu viel heißen Tee getrunken. Der will raus. Ich stelle mich an einen Baum. Ich kann nicht genau sehen, was da passiert, aber ich kann hören, wie mein Tee als Eis am Baum zerbröselt. Ganz wunderschönes Nordlicht heute Nacht, sagt Toshiro, aber warum tun wir uns das an?

Ich liebe diese Finnen!

 

ANREISE: Mit Finnair nach Helsinki von 238 Euro an, nach Turku ab Hamburg mit Finnair oder Lufthansa von 430 Euro an. Mit der Fähre (Finnlines, Tel.0451/150 74 43) in circa 36 Stunden von Travemünde nach Helsinki, Preisbeispiel: ab 522 Euro (hin und zurück) pro Person bei Belegung der Kabine mit zwei Personen. Von Helsinki oder Turku dann mit der Bahn zur Endstation Rovaniemi (beides 63,20 Euro). Vom Bahnhof mit dem Bus der Gold Line nach Inari für 40 Euro. Mit der Buslinie Eskelisen Lapin Linjat für 4,60 Euro von Inari 25 Kilometer in Richtung Kaamanen

ÜBERNACHTUNG: Hotelli Inari, einfach, nett, sauber, mit Restaurant und Kiosk. Einzelzimmer im Winter 25 Euro, Tel. 00358-16/67 10 26, Fax 67 10 47, Hostel Jokitörmä in Kaamanen (Herberge, aber nicht Jugendherberge), Übernachtung 16 bis 19 Euro

 

DIE ZEIT, 12/2003